Gesamtkilometer seit Start in Hamburg am 11.05.2022: 1596,588 km
Davon gelaufen: 142,273 km
Davon heute gelaufen: 25,96 km
Der Weg steht sinnbildlich für das Leben. Es gibt schöne Momente und weniger schöne. Entscheidend ist immer, wie du damit umgehst, was du daraus machst.
Lässt du dich unterkriegen? Oder beobachtest du – erhaben wie ein Adler – die Dinge aus der Vogelperspektive?
Welche Position nimmst du ein? Klein, bedürftig und hilflos? Oder groß, stark, kraftvoll und dich selbst ermächtigend?
Lebst du oder wirst du gelebt?
Ein Ehepaar aus Deutschland
Ich sitze in der Bilbaoer Markthalle bei Pintxos und Wein, als ein Ehepaar zum dritten Mal an mir vorbei läuft. „Es ist noch immer alles voll“ sagt sie zu ihm. Ich lade sie ein, dass sie sich gern zu mir an den Tisch setzen können.
Die Beiden sind für vier Wochen mit dem Auto durch den Süden unterwegs und schauen sich die größeren Städte an. Es ist ihre erste Nacht in Bilbao, zuvor waren sie in San Sebastian, danach ist Santander dran. Sie bleiben jeweils für zwei Nächte in einer Stadt. Für Bilbao ist morgen das Guggenheim-Museum dran.
Ein ganz wundervolles Paar, die Beiden. Er erinnert mich an meinen, im letzten September verstorbenen, Schwiegervater.
Arturo aus Chile
Er bewohnt das Zimmer neben mir in meinem Hotel in Bilbao. Ich frage ihn, ob er etwas von meinem Wein haben möchte und er freut sich.
Weingläser hat das Hotel nicht. Der Portier gab mir einen Plastikbecher, als ich nach einem Weinglas fragte. Arturo holt seinen Becher aus dem Bad und wir stoßen stilvoll an.
Arturo ist gerade aus Dublin angereist, zuvor war er in England, einen Freund besuchen. Und nun freut er sich über die Wärme, in Chile beginnt gerade der Winter.
In dem Moment, als ich dachte, dass ich Smalltalk in englisch sehr viel besser kann als in meiner Muttersprache, wird unser Gespräch tiefgründiger: Wir unterhalten uns über unsere Herkunft, unser Sein und unser Werden.
Unser interessantes Gespräch dauert an, bis die Flasche leer ist.
Bilbao schläft noch
0450 – Überraschend früh mache ich mich frisch geduscht auf den Weg. Die nächste Etappe, bis Portugalete, ist bis zu ihrem Ende mit lediglich knapp elf Kilometern angegeben.
Ich bin bereits ein Stück gelaufen, als ich einen jungen Mann neben mir bemerke. Er geht nicht langsamer als ich, aber auch nicht schneller. Ich schaue ihn an, er spricht mich mit „Hola“ an und redet weiter, auf Interaktion mit mir hoffend. Ein Unbehagen macht sich in mir breit und ich falle ihm ins Wort „No!“ „No, no, no!“ Er zieht weiter und ich führe meinen Weg ebenfalls fort.
0630 – Langsam erwacht Bilbao, ich rieche frische Backwaren. Erste Cafés öffnen.
Das Leben überrascht dich, wenn du Entscheidungen triffst.
Ich entscheide mich, meinen Schlafsack, der wiegt knapp ein Kilo, und mein Buch zurück zu senden. Wenn ich nicht mehr in einer Albergue übernachten will, dann brauche ich auch keinen Schlafsack. Punkt. Nägel mit Köpfen machen und klare Zeichen setzen. Mein Hüttenschlafsack bleibt allein wegen der Hygenie bei mir. Alle Poststationen haben zu dieser Zeit noch geschossen und öffnen erst um 0830.
Plötzlich fällt mir eine U-Bahn-Station vor die Füße. Und die Nächste. Fährt die vielleicht bis Portugalete? Warum sollte ich es mir nicht einfach machen? Regeln? Welche Regeln?
Ich schaue in der App rome2rio nach. Tatsächlich, in zehn Minuten würde ich, ohne umzusteigen, Portugalete erreichen. Zehn Minuten fahren oder drei Stunden laufen? Die Antwort ist eindeutig.
Doch um acht Uhr morgens schon meine Etappe beenden? Ich schaue in der App Buen Camino, wie es weiter gehen könnte. Im knapp 13 km entfernten Pobeña gibt es kein Hotel mehr, aber im keine zwei Kilometer dahinter liegenden Ontón.
Innerhalb weniger Minuten habe ich das Hotel gebucht.
In der Haltestelle San Ignaz steige ich in die Unterwelt und kaufe mir ein Ticket. Ich frage einen Herrn, welcher Bahnsteig der richtige ist. Er gibt mir noch den Hinweis, dass zwei Züge fahren und der nächste nicht der richtige ist.
Portugalete
Das erste was ich tue: Ich schaue, wo ich ein Postamt finden kann. Genial, eins liegt fast direkt am Weg und öffnet um 0830.
Nach zwei Kilometern biege ich vom offiziellen Camino ab, um zum Postamt zu gelangen. Von der anderen Straßenseite ruft eine Frau zu mir „Camino“ und weist mit ihrem Arm in die Richtung, von der ich gerade komme. Ich rufe zurück „No. Officina Correos.“
„Correos? No Correos!“ sie schüttelt den Kopf. Ich gehe zu ihr rüber und sie erklärt mir, dass sie hier wohnt und es hier kein Postamt gibt. Aber die Straße wieder runter. Dort wo ich hergekommen bin.
Sie begleitet mich ein Stück und zeigt mir noch einmal den Weg.
Frühstück
Ich komme dort an und es ist noch fast eine halbe Stunde bis zur Öffnung. Noch weiter die Straße runter sehe ich Stühle und Tische geordnet stehen. Dort will ich frühstücken, bis die Post öffnet.
Im Officina Correos gerate ich an eine ganz wunderbare Frau. Obwohl ihr Englisch genauso gut ist, wie mein Spanisch, erfahre ich mit Hilfe anderer Anwesenden – ich glaube, das ganze Officina ist involviert – dass der Versand des Pakets nach Deutschland 40 Euro kostet. Oh!
Ok. Ich habe mich entschieden, es gibt jetzt kein Zurück und keine Ausreden mehr.
Ich entschließe mich, alles in das Paket zu stecken, was schwerer, entbehrbar oder gegen leichteres ausgetauscht werden kann. Damit geht auch meine elektrische Zahnbürste zurück nach Deutschland.
Ich bin eine ganze Stunde in dieser Officina und am Ende ist mein Rucksack gute zwei Kilo leichter. Die Dame ist weiterhin sehr, sehr lieb und absolut gewissenhaft. Ich mag sie sehr, mit ihren kurzen, schwarzen Haaren und ihrer Latzhose. Sehr individuell und dennoch so wunderbar warmherzig.
0935 – Auf meinem Weg zurück zum Camino suche ich einen Supermarkt. Schließlich brauche ich eine neue Zahnbürste. Eine ältere Dame läuft an mir vorbei und wünscht mir „Buen Camino“. Ich strahle sie an „Gracias“. Eine Straße weiter begegne ich ihr erneut, sie läuft auf mich zu und fragt mich mit einer Geste, ob ich für heute einen Schlafplatz benöitige. Leider nein. Doch ich freue mich so wahnsinnig über ihr Angebot. Für mich ein eindeutiges Zeichen, dass es richtig war, den Schlafsack zurück zu schicken.
Ich begegne heute vielen solcher Menschen, die mir den Weg zeigen, mich darauf hinweisen, dass ich mich verlaufen habe oder mich einfach so ansprechen.
Außer einmal, kein weiterer Mensch in der Nähe und ich folge dem Aufkleber. Ich wundere mich, dass es plötzlich so steil runter geht, denke mir aber nichts weiter. Bis ich vor eine Gabelung ohne weitere Pfeile stehe. Meine App sagt mir, dass ich hier falsch bin.
Rechts entlang, an diesem kleinen Bach, hinter dem Tor, über diese Wiese, dürfte es eine Abkürzung geben. Das Gras ist hoch, der Hangs ist steil. Dennoch klettere ich hoch. Ich sehe die Radfahrer, mich und den richtigen Weg trennt nur noch ein Maschendrahtzaun. Und Hecke. Stachlige Hecken. Ich muss an den Kampf von Andreas und Jörg denken. Ich finde kein Schlupfloch und laufe zurück. Brennnessel streifen meine nackten Waden. Ist jetzt auch egal.
Ich stapfe den Weg zurück. Habe ich mich so versehen? Nein. Da ist tatsächlich ein Aufkleber. Und einer an der nächsten Abbiegung. An der Richtigen.
Heute habe ich das Baskenland verlassen und Kantabrien betreten. Ein Weg, der sich heute einfach so weg lief. Vielleicht, weil keine Sonne geschienen hat. Vielleicht, weil er flach war. Vielleicht, weil ich besser werde. Sicher eine Mischung aus allem zusammen.