Oder: Eine Entscheidung zwischen Tränen und Schmerz muss getroffen werden.
Mein ganz eigener Weg auf dem Camino del Norte.
Hätte ich mir im Krankenhaus mal doch Ibuprofen geben lassen, denke ich, als ich in der Nacht mehrmals wach werde.
Keine Ahnung, wie ich liegen soll. Bei jeder Drehung schmerzt das Bein und der Fuß. Ich bin angespannt.
Irgendwann treffe ich bewusst die Entscheidung, mich zu entspannen. Daraufhin schlafe ich für den Rest der Nacht entspannt weiter und wache erst am Morgen auf.
Die Entscheidung steht an
Hatte der Hotelbesitzer doch recht, als er gestern scherzhaft sagte, dass ich vielleicht eine Woche hier bleibe? Harre ich aus und hoffe, dass alles nicht so schlimm ist und der Schmerz sich bald verbessert? Oder gebe ich auf und fliege nach Hause?
Das ist ein Teil meiner Gedanken nach dem Aufwachen.
Als ich aus dem Bett aufstehe, ist meine Entscheidung fast klar. Nicht nur der Knöchel schmerzt. Es ist die gesamte Wadenmuskulatur. Und auch mein Knie. Ich denke an Muskelzerrung und eine Überdehnung der Bänder. Gestern wurde ja nur der Knöchel geröntgt.
An schmerzfreies Laufen ist nicht zu denken. Und bei jedem Schritt aufzupassen und Angst vor Unebenheiten zu haben?! Nein! Das will ich nicht.
Unter Tränen schaue ich nach Flughäfen in der Nähe und den besten Flugverbindungen. Nach einigem Suchen finde ich für den nächsten Tag einen Flug nach Hamburg – über Alicante vom nahegelegenen Flughafen Asturien.
Ich überlege und wäge die Alternativen ab. Allesamt sind keine wirklichen Alternativen.
Ich buche den Flug.
Morgen Abend um 23 Uhr werde ich also schon zu Hause sein.
Meine Tränen hören gar nicht mehr auf zu laufen bei dieser Vorstellung. Mein Ziel für den morgigen Abend war ein anderes.
Ich verabrede mich mit Anna aus der Schweiz. Natürlich nicht, ohne sie vorzuwarnen, dass ich wohl das ein oder andere Mal spontan in Tränen ausbrechen werde.
Ich will sie mir heute geben, die Zeit zum Trauern. Zum Trauern ob der 338 Kilometer, die noch vor mir liegen und nun und jetzt nicht mehr wie vorgestellt gegangen werden können.
Anna ist noch nicht da, als ich den Plaza Mayor erreiche. Also humple ich runter zum Wasser.
Wie schön! Und auch die Sonne zeigt sich.
Ich tue es all den anderen Menschen nach und gehe mit den Füßen ins Wasser. Mit Verband. Soll ja gekühlt werden, der Fuß.
Zwischen all den Tränen – die vielen Menschen sind mir egal – tauchen erste Gedanken auf, wie ich den Weg weiter gehen kann. Möglichkeiten spielen sich in meinem Kopf ab.
Eine davon ist die, dass ich die Strecken, die ich zuvor mit der Bahn gefahren bin, laufen werde. Bevor es ab Gijón weiter geht.
Nur ab Gijón zu laufen, ist keine Option. Ein halber Weg ist für mein Erleben gar kein Weg. Denn wenn ich eins bisher für mich festgestellt habe: Es ist die Zeit, die mit mir arbeitet.
Wenn es mir nicht möglich ist, die gesamte Strecke auf einmal zu gehen – wie ursprünglich geplant – dann sollen es doch alle Kilometer des Weges sein, die ich laufe.
So bringt das Auslassen der Fußlaufstrecke nun auch Vorteile: 390 Fußkilometer waren es bisher. Zähle ich das, was bis Santiago noch vor mir liegt und die ausgelassenen Fußkilometer zusammen, werden es ca. 450 Kilometer sein, die noch zu laufen sind.
Es ist nicht dasselbe, wie den ganzen Weg an einem Stück zu laufen. Aber es ist eine Option, die mich freuen lässt. Wenn das Ursprüngliche nicht mehr möglich ist.
Unser gigantisches Essen im Restaurant La Galana*
Bei unserem Treffen erzähle ich Anna von meinen Gedanken, wie mein Weg weiter gehen könnte. Dadurch werden sie realer. Und die Idee, die zuvor nicht gelaufenen Kilometer zu laufen, findet immer mehr Anklang in mir.
Die Zeit mit Anna tut gut. Sie versteht und kann nachempfinden, was ich fühle. Auch sie ist bereits vier Wochen unterwegs. Mit dem selben Ziel wie ich: Santiago de Compostela erreichen.
Sie sagt, dass sie während des Weges immer mal wieder Angst davor hatte, sich zu verletzen und nicht weiter laufen zu können. Seltsamerweise hatte ich diese Gedanken oder diese Angst nie.
Am Abend bin ich nochmal im La Galana* verabredet. Mit Anna und Olli und Anne. Alle drei sind eine lange Strecke gemeinsam gelaufen, Olli und Anne als Paar tun dies noch immer. Auch sie bleiben zwei Nächte in Gijón, während Anna morgen weiter läuft. Und ich nach Hamburg fliege.
Auch wir vier verbringen eine schöne gemeinsame Zeit. Wir tauschen einige Pilgergeschichten aus. Und freuen uns über die vielen Kellner und die einzige Kellnerin. Sie wuseln herum und haben alles im Griff.
Olli sagt, er könnte der Kellnerin stundenlang zu sehen, wie sie den Sidra eingießt. Er ist davon ebenso fasziniert, wie ich es vorgestern war.
Ein würdiger und schöner letzter Abend meines Caminos. Danke an alle Beteiligten. Es war mir ein Fest.