Gelaufene Strecke heute: 22 km
Gelaufene Strecke seit meinem Start in Hamburg am 11.05.2022: 89 km
0820 – Ich starte in San Sebastian sehr dankbar für das absolut geniale Hotelzimmer und das wunderbare gestrige Restaurant. Meine Entscheidung, diese Etappe aufzuteilen, war absolut richtig.
San Sebastian, ich werde wieder kommen.
Ferrie aus Holland
0940 – Ein Pilgerer läuft grüßend an mir vorbei. „Hej, I saw you yesterday!“ („Hej, dich habe ich gestern gesehen!“) rufe ich ihm nach. Er dreht sich um und antwortet lachend „No, the day before.“ („Nein, vorgestern.“). Wir laufen ein kurzes Stück gemeinsam und haben ein interessantes Gespräch. „Oh, wow!“ sagt er, als ich ihm erzähle, dass Santiago mein Ziel ist. Er hat nur elf Tage und wird bis Bilbao gehen. Im September geht er den Rest. Und im nächsten Jahr wird er ein halbes Jahr wandern – in Amerika oder Neuseeland. Wir lachen beide, als ich ihm sage, dass ich wandern nicht mag und er meint, dass Santiago ja dann das richtige Ziel wäre. Bon camino, sein Schritt ist schneller als meiner.
Der Weg gibt dir, was du brauchst.
1035 – Den Satz habe ich schon so oft gehört und gelesen. Ich habe ihn früher so verstanden, dass ich eine Unterkunft bekomme, wenn ich eine brauche und Essen, wenn ich Hunger habe – also auf das Materielle bezogen. Heute denke ich, dass es noch so viel mehr ist, was er dir gibt: Das, was du brauchst, um in deine wahre Größe zu wachsen.
Ich bin der absoluten Überzeugung, dass wir immer das geboten bekommen, was wir brauchen, um in unsere wahre Größe zu wachsen. Und es liegt an uns selbst, ob wir das Angebotene annehmen – so doof oder unpassend es uns auch erscheint – oder dagegen ankämpfen und im alten Trott, mit den bisherigen Gedanken und Annahmen weiter machen.
Du kannst gewinnen oder lernen. Verlieren ist nicht. Niemals! Alles eine Frage der Einstellung, eine Frage des Blickwinkels.
Ellen aus Deutschland
1100 – Gerade denke ich darüber nach, dass alle Personen männlich waren, mit denen ich ein längeres Gespräch hatte, als ich eine weibliche Stimme neben mir vernehme. Auf mein „Buen Camino.“ antwortet sie mit dem gleichen Gruß und mit „Hallo.“ Ich wundere mich, warum sie annimmt, dass ich aus Deutschland komme. Ein Übersetzungsverständnis war die Ursache.
Ellen und ich stellen fest, dass wir beide aus Hamburg kommen und dass wir es beide völlig gemütlich angehen lassen. Santiago ist unser Ziel, aber wenn uns unterwegs was noch besseres passieren sollte, dann ist das so.
Sonst sind wir gegensätzlich: Sie mag Treppen und Aufstiege, ich mag Abstiege. Sie will nur in Alberguen unterkommen, ich so wenig wie möglich. Mit ihr laufe ich das bisher längste Stück gemeinsam. Doch auch unsere Wege trennen sich wieder.
Ich stelle fest, dass ich bisher ausschließlich mit Menschen längere Gespräche führte, die allein unterwegs sind. Auf meinem heutigen Weg treffe ich immer mal wieder auf dieselben Paare, aber mehr als ein paar Worte, wenn überhaupt, fallen nicht.
1115 – Ich bin überrascht, dass ich mich heute noch gar nicht gefragt habe, was ich hier eigentlich mache. Die letzten Tage kam diese Frage an mich, nachdem ich ungefähr acht Kilometer gelaufen bin. Jetzt sind es schon über neun Kilometer und es ist immer noch einfach nur schön. Anstrengend, ja, aber sonst nur schön.
1310 – So langsam schwinden meine Kräfte. Ich bin bin genervt, dass es eben noch bergab ging und nun schon wieder bergauf. Ständiger Wechsel. Gibt’s keinen effektiveren Weg? Und dennoch ist alles, was ich am Rand entdecke, noch immer wunderschön. Ich fange an, zu singen, rückwärts zu gehen und mich mit Kühen, Ziegen, Schafen und Katzen zu unterhalten. Auch wenn die Unterhaltung eher ein Monolog ist, macht’s mir Spaß.
Ich komme in Orio an. Diese Gegend ist bewohnt, hier gibt’s Häuser. Sogar am Friedhof bin ich vorbei gekommen.
Wenn ich nicht bald was zu essen bekomme – was anderes als Cashews, Obst oder Cookies – und eine Pause machen kann ….
Aufgrund meiner schlechten Erfahrung in einem Restaurant in Pasaia will ich nicht im ersten Restaurant, welches sich dem gemeinen Pilgervolk zeigt, einkehren. Mein Internet geht nicht, die Meinungen anderer kann ich nicht lesen.
Doch bei einem Eintrag steht „am besten bewertet“. Da will ich hin. Es ist nicht weit entfernt, aber als ich eintrete, sehe ich Kuchen und andere süße Sachen. Das ist nicht das, was mein Körper jetzt will.
Gegenüber sehe ich Pintxos in der Auslage und gehe rüber. Leider nur mit Fisch oder Fleisch. Aber die Dame hier ist so lieb und herzenswarm – wir verständigen uns mit Hand und Fuß – dass sie mir erklärt, wie ich zu einem Restaurant komme, in dem ich was zu essen bekomme.
Und ich lande in der Salatxo Taberna. Und ich kann, möchte und will sie empfehlen. Einheimische sitzen draußen an den Tischen – für mich immer ein gutes Zeichen – und innen ist es rustikal. Einige Pintxos und Tortillas, aber ich will einen Salat. Und ein Bier. Vom Fass.
Ich habe mich entschieden, mein vegan/vegetarisch auf meinem Weg lockerer zu sehen. Wenn ich Speisen bestelle und da ist ein Ei drauf, ohne das vorher darauf hingewiesen wurde, nehme ich das als Wink, dass mein Körper das jetzt wohl gerade braucht – für die ganzen Muskeln die er aufbaut. Denn, würde ich das vorher wissen, würde ich es abbestellen.
Eine Tarte gab’s zum Abschluss auf die Hand. Süßes, klebriges Zeugs, aber so lecker.
Kurz vor dem Ende der heutigen Etappe
Es ist soweit! Ich kann nicht mehr. 19 km sind für heute geschafft. Und nun ist er da, der Zeitpunkt, dass ich keine Lust mehr habe. Jeder Meter zieht sich wie Kaugummi. Die Füße schmerzen, die Sonne brennt, der Rucksack wird unbequem.
Leise Gedanken kommen immer wieder hoch: Bleib zwei Nächte in Zarautz. Diese Gedanken gefallen mir immer mehr, dennoch sind da Zweifel verschiedenster Art.
Am Ziel
Und wieder meint es das Leben gut mit mir: An der richtigen Stelle habe ich den Impuls, die Adresse meiner heutigen Pension einzugeben. Genau dort, wo ich angehalten hatte, gibt es eine Abkürzung zu meiner Unterkunft und ich erspare mir zusätzliche drei Kilometer.
Nur noch 1400 Meter, denke ich. Meine Füße und mein Körper sprechen eine andere Sprache. Sie wollen nicht mehr.
Ich irre ein wenig umher und finde meine Unterkunft nicht. Sie liegt in einer Fußgängerzone und meine Navigation will nicht so wie ich es will. Ich sehe den Namen der Pension und gehe durch die Tür. Ich wundere mich, warum hier so viele Tische stehen. Als ich den nächsten Raum betrete, stehen noch mehr Tische. Und im Raum darauf sehe ich die Bar eines Restaurants mit einem Kellner dahinter. Ich sage, dass ich ein Zimmer reserviert habe. Er schaut mich mit großen Augen an und muss wohl meinen Rucksack bemerkt haben „ah, la Pensiona“ und zeigt mir kurze Zeit später die Tür zur Pension, die ich gestern um Mitternacht noch gebucht habe.
Ich bin positiv überrascht, als ich mein Zimmer in der Pension Txiki Polit öffne. Es liegt zum Hinterhof und sogar einen kleinen Balkon habe ich. Meine Wäsche war noch nie so schnell trocken wie heute.
Alles in mir ruft: Bleibe zwei Nächte! Mein Kopf ist noch nicht überzeugt. Ich frage an der Rezeption, ob das Zimmer auch in der folgenden Nacht noch frei ist und nach einer kurzen Verhandlung würde ich es zum selben günstigen Preis bekommen, wie die Nacht zuvor. Auf die Einwände meines Kopfes höre ich nicht mehr und buche diese zweite Nacht.
Mein Sonnenbrand freut sich, meine Muskeln freuen sich, ich freue mich. Auch wenn das heißt, dass ich alle bisherigen Bekanntschaften nicht mehr wieder sehen werde. Sie alle ziehen weiter.
4 Kommentare
Du hast wirklich Glück mit dem Wetter. Bisher konnte ich keinen Regen sehen oder erlesen. Wenn Du also nicht weißt, dass es gekochte Eier gibt, dann ist Du sie auch. Gut…….werde ich mir für den Stadtpark merken ;).
Lieber Rodger, bezüglich der Eier lies bitte nochmal.
Und wenn du mir ein Ei unterjubeln willst, wirst du in den See fallen müssen.
Warum alles dokumentieren, warum eine App, die alles aufzeichnet? Du machst das sehr schön, aber der Camino läuft für mich anders, tief im Inneren. Schalte dein Handy aus, sei nicht erreichbar, halte die Momente in deinem Herzen fest und nicht in Fotos. Sei still und gehe in die Herbergen und nicht in Pensionen. Das ist mein Rat, den ich dir geben kann. Ich habe sehr gute, tiefe Gespräche abends in den Herbergen geführt. abseits vom Luxus, aber ich wurde reich beschenkt.
Loslassen und Einlassen…. . Der Camino ist ein Weg des Herzens und der Stille. Wer bei sich ist uns sich darauf einlässt, fühlt diese Energie, der vielen Menschen, die den Weg gelaufen sind. Es geht um dich und nicht um die Präsentation im Außen. Muss man alles vorher planen, buchen, wissen? Einfach laufen und auf dich zukommen lassen, offen sein für Erfahrungen. Mein ganz persönlicher Rat…Wir verpassen so viel, weil wir immer wieder damit beschäftigt sind, das Foto für später zu machen, was ich dann posten möchte. Der Augenblick, das Jetzt geht verloren. Wer sich auf den Weg wirklich einlässt und darauf konzentriert, kommt anders wieder. Nie habe ich so viel geweint und war gleichzeitig so glücklich und ich habe mich selbst gefunden. Die Herbergen geben eine Gemeinschaft, die man manchmal nicht in Worte fassen kann… Gehe einen Tag mal ohne Handy und schaue, was passiert… Es ist ungewohnt, aber es gibt so viel Freiheit und andere Eindrücke. Bitte verzeihe, dass ich das so ehrlich schreibe, aber ich glaube, da wartet etwas anderes noch auf dich…. Herzlichst Annette
Liebe Annette, vielen Dank für deinen wertvollen Beitrag.
Ich bin der festen festen Überzeugung, dass jede Person ihren ganz eigenen Weg geht. So wie sie es in diesem Moment – und nur darum geht es ja, um das JETZT – für richtig hält.
Es gibt kein Falsch, aber ein ganz individuelles Richtig.