26 – Villaviciosa bis Camping Deva bis Gijón

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26 – Villaviciosa bis Camping Deva bis Gijón

Oder: Soll meine Reise heute wirklich schon zu Ende sein?

Heute gelaufen: 22,867 Kilometer


Gelaufen seit meinem Start am 11.05.2022 in Hamburg: 387,317 Kilometer

Mein ganz eigener Weg auf dem Camino del Norte

0808 – Ich starte – für meine Verhältnisse – relativ früh. Die gesamte Strecke ist mit mit 29,8 Kilometern angegeben. Die will ich schaffen. Zwei Nächte Gijón warten auf mich. Aufgrund einer spontanen Eingebung habe ich mir die gegönnt.

Vor den beiden vor mir liegenden Bergen mit steilen Anstiegen – angegeben mit über 400 und über 300 Metern Höhe – gruselt es mich ein wenig. Doch wenn ich nicht loslaufe, werde ich nie erfahren, ob es wirklich so schlimm ist, wie meine Befürchtung es mir einreden will.

Hasta luego, Villaviciosa. Du verabschiedest dich wirklich wunderschön.

Am Ortsausgang von Villaviciosa finde ich eine kleine Bar. Die hat heute, am Sonntag, um kurz nach acht Uhr morgens, tatsächlich bereits geöffnet. Ich habe Hunger und bestelle eine doppelte Portion Tortilla und einen Café Americano grande. Keinen Zumo, kein Pan con Tomate – haben sie nicht. Dafür habe ich mindestens einen Mann gesehen, der bereits Sidra trank.

Hier, auch links am Haus zu erkennen, steht die Entscheidung an, wie du weiter gehen möchtest. Nach links, über Oviedo und anschließend dem Camino Primitivo? Oder weiter geradeaus, über den Camino del Norte? Ich finde die Dekoration des Hausbewohners sehr eigen, skurril und witzig.

Die Entscheidung, dass ich den Camino del Norte weiter gehe, ist bereits gefallen. Oviedo ist beim nächsten Mal dran.

Der erste angegebene Anstieg flößt mir so viel Respekt ein, dass ich immer wieder auf das Höhenprofil schaue, ob die Ansteigung, die ich gerade laufe, schon der große Aufstieg ist.

Völlig überflüssig, wie sich heraus stellt – denn ist er erstmal da, DER Anstieg, ist er gar nicht mehr zu verkennen. Du siehst nur noch ein schräges Bergauf. So weit das Auge blickt. Und auch, wenn du um die Ecke biegst. Und die nächste Ecke. Und auch die nächste Ecke wieder.

Es ist anstrengend. Mein Kopf sagt mir immer wieder, während des Aufstiegs, dass ich doch aufs Höhenprofil schauen soll, wie weit es noch ist.

Nein! Mache ich nicht. Will ich nicht. Ich konzentriere mich auf den Aufstieg. Ganz wie Beppo der Straßenfeger im Film MOMO: Schritt, Atemzug, Besenstrich. Dass ich keinen Besen habe, ist nicht schlimm.

Der Schweiß läuft. Immer wieder wische ich mein Gesicht mit dem Ärmel meines blauen Hemdes ab.

Schritt. Atemzug. Besenstrich.

Als sie dann da ist, die Spitze des Aufstiegs, spüre ich es ganz intuitiv. Yeah! Geschafft. Leider gibt es keinen Blick ins Tal von dieser Spitze. Nur Bäume ringsherum.

Mehrere Radfahrer machen ebenfalls am höchsten Punkt Pause. Der Anstieg für sie, über die Straße, war sicher genauso anstrengend.

Zwei spanische ältere Herren, die ebenfalls pilgern, liefen hinter mir den Aufstieg und stehen ebenfalls oben für eine kurze Rast. Sie lachen und deuten ein Auswringen an, als ich mein klitschnasses Hemd ausziehe.

Liegt es am Sidra vom Vorabend, dass ich so sehr schwitze? Oder daran, dass ich nur dreieinhalb Stunden geschlafen habe? Oder daran, dass es tatsächlich einfach nur anstrengend war?

Einer der spanischen Herren bietet mir ein Stück Schokolade an. Ich habe weder Hunger noch Appetit, nehme aber dennoch ein Doppelstück. Schoko mit Haselnuss.

Er sagt, ich soll mehr noch mehr nehmen. Dankend lehne ich ab. Es braucht ein paar „No Gracias“, bevor er mein Nein akzeptiert.

Nach einigen Metern Abstieg bietet sich doch noch ein ganz wundervoller Blick. Leider kann auch hier das Bild nicht annähernd wiedergeben, was das bloße Auge vor Ort sieht und wahrnimmt.

Noch während des steilen Abstiegs taucht Anna aus der Schweiz hinter mir auf. Die Freude ist auf beiden Seiten groß. Sie wusste bis kurz vor der Abzweigung Oviedo/del Norte nicht, welchen Weg sie nehmen wird.

Wir laufen gemeinsam weiter. Es macht Spaß in ihrer Gesellschaft zu laufen. Mein Schritt ist mit ihr gemeinsam zügiger und flotter.

Und wir verlaufen uns gemeinsam. Und finden gemeinsam wieder auf den Weg.

Anna freut sich auf eine Gaststätte am Weg. Die Einzige übrigens auf dem ganzen Weg. Und sie hofft, dass sie geöffnet hat. Hat sie, aber die Küche öffnet erst in einer halben Stunde. So lange wollen wir beide nicht warten und gehen nach einem Getränk weiter.

Ich fülle noch meine Wasserflasche an einem extra für die Gäste aufgestellten Wasserspender auf. Wie gut, dass Anna mich darauf hingewiesen hat, ich hätte sonst das gechlorte Leitungswasser eingefüllt.

Neben der Geste mit dem Wasserspender hat die Gaststätte auch einen Korb gekochte Eier auf der Theke zu stehen. Für jeden Gast Eins, schreiben Sie dazu.

Riesige Holzfässer gibt’s nicht nur im Spreewald.
Aus der Reihe „Skurriles am Weg“: Ein Gästebuch für Pilger. Einfach so.

Auch der nächste Anstieg hat es in sich. Ich flachse, dass die nur geschrieben haben, dass er nicht so hoch ist. Es geht steil bergauf. Und steil bergauf. Und steil bergauf. Kein Ende in Sicht.

Das Bild gibt die Steilheit (gibt’s das Wort überhaupt?) nicht annähernd wieder.
Hier wird der wunderbare Blick freigegeben, sobald die maximale Höhe erreicht ist.

Auf diesem Gipfel treffen wir auf ein belgisches Paar, welches mit dem Rad unterwegs ist. Sie leben in Gijón und sprechen sehr gut deutsch. Sie sagt, dass es ab jetzt nur noch bergab geht. Ich freue mich. Später auf dem Weg stellen wir fest, dass das vielleicht für Radfahrer gilt, keineswegs aber für den Fußweg.

Manchmal kommt es anders als gedacht

Der Weg zieht sich. 23 Kilometer sind wir schon gelaufen. Ich singe laut. Ich rufe laut. Ich lache laut. Meine Art, um Stress und Unlust entgegen zu wirken.

Lache, auch wenn du nichts zu lachen hast. Ändern kannst du das, was du gerade erlebst, ja sowieso nicht. Mein Motto.

Ich erzähle Anna davon. Und davon, dass es für mich keine Alternative hierfür gibt. Und während ich ironisch den Satz „Ich könnte mich jetzt auch hier hinsetzen und heulen“ passiert es: Ich knicke mit dem rechten Fuß um, versuche mich zu fangen, verdrehe während des Sturzes Knie und Knöchel und fange mich mit Ellenbogen, Unterarm und rechter Hand ab.

Ich sehe meinem Sturz wie in Zeitlupe zu. Anfangs denke ich noch,, dass ich mich halten kann, aber da wir immer noch abschüssig laufen und ich meinen schweren Rucksack auf meinem Rücken trage, wird das nichts.

Ich sitze auf dem Boden, Anna ist total erschrocken und bietet mir Hilfe beim Aufstehen an. Ich muss mich erstmal sammeln.

Wie ich aufstehen soll, weiß ich gerade nicht. Meine Füße zeigen den Berg aufwärts.

Als der Schmerz in meinem rechten Bein nachlässt, drehe ich mich trotz Schotterpiste und aufgeschlitzter Hand auf alle Viere. Nur so kann ich aufstehen. Den Rucksack abzunehmen, wie Anna es vorschlägt, ist gerade keine Option.

Wir spülen die Wunden an Hand und Unterarm mit Trinkwasser und laufen zum keine 200 Meter entfernten Camping Deva. Ein möglicher Stopp auf dem Weg vor unserem, noch sechs Kilometer entfernten, Ziel Gijón.

Anna lässt ein Taxi rufen, wir kaufen uns jeder ein Bier. Tagesziel, Etappenziel zu Fuß erreicht. Nicht ganz freiwillig ein paar Kilometer zu früh.

Der Taxifahrer ist schnell da, unser Bier ist noch nicht mal leer.

Gijón

Zuerst fahren wir mein Hotel* an. Anna will doch nicht mehr laufen und lässt sich weiter zu ihrem Hotel fahren.

Ich betrete die Empfangshalle meines Hotel – behumple wäre wohl der bessere Ausdruck – und keiner ist da. Es dauert einen Moment, bis ich die Nummer entdecke, die ich anrufen soll. Zwei Minuten später ist der Inhaber, zusammen mit seinem etwa sechsjährigem Sohn vor Ort.

Als er mich sieht und ich ihm vom meinem Sturz erzähle, läuft er sofort los und holt irgendwas. Freudestrahlend steht er vor mir und erzählt, wie gut das ist, was er in der Hand hält. Eine kleine, gelbe Flasche. Und Watte.

Ich vermute brennende Desinfektion und lehne dankend ab. Auch hier dauert es, bis mein Nein akzeptiert wird.

In meinem Zimmer angekommen, überkommen mich die Tränen. Was ist mit meinem Bein? Was, wenn es das jetzt war? Kann ich weiter laufen? Brauche ich mehr als einen Tag Pause um weiter laufen zu können?

Ich dusche, ziehe mich um und gehe los, um irgendwo irgendwas zu trinken. Und dabei zu überlegen, wie es weiter gehen könnte.

Auf meinem Weg komme ich an einer Touristeninformation vorbei. Hier werde ich mich morgen, sollte mein Bein nicht besser sein, nach einem Arzt oder Krankenhaus erkunden.

Der Hafen von Gijón mit einem Turm aus leeren Sidra-Flaschen.

Bereits während des Rotweins entscheide ich, noch heute die Touristeninformation aufzusuchen. Ich will wissen, ob Weiterlaufen überhaupt eine Option sein kann. Ist etwas gebrochen, ist mein Weg definitiv vorbei.

In englischer Sprache erkläre ich mein Anliegen, während mir die Tränen laufen.

Plötzlich steht Victoria im Raum und spricht mich auf deutsch an. Sie und ihr Mann Jesus sind meine Engel des Abends.

Victoria ist Spanierin und hat lange Zeit in Deutschland gelebt. Sie telefoniert für mich mit verschiedenen Krankenhäusern.

Zu dritt fahren wir in das erste Krankenhaus. Es ist Sonntag, hier hat auch das Röntgengerät Wochenende.

Victoria erreicht endlich das private Krankenhaus und wir fahren dorthin.

Die Ärztin untersucht mich und stellt fest, dass das Knie soweit in Ordnung ist. Den Knöchel will sie röntgen. Auch hier stellt sich heraus, dass nichts gebrochen ist.

Ich bin erleichtert. Theoretisch steht einem Weiterlaufen nichts im Weg. Die Ärztin ist nicht vollends begeistert, hat aber auch keine Gegenargumente. Bis auf ein paar Tage Schonung.

Victoria, Jesus und ich gehen gemeinsam essen. Das, was die Beiden eigentlich tun wollten, bevor sie mit mir die Kliniken abgefahren sind.

Mein Essen war fantastisch. Und das lag nicht nur daran, dass ich den ganzen Tag kaum etwas gegessen habe.

Es war ein schöner und wundervoller Abend mit den Beiden. Die Umstände haben uns zusammen gebracht und ich freue mich auf die nächste Möglichkeit, wieder Zeit mit ihnen zu verbringen.

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